Wir fordern das Betteln zu tolerieren

Betteln ist ein Recht auf Stadt
gruppe polar – Teil der Bettellobby

 

Die Stadt Dresden will das Betteln einschränken. Zurzeit stehen Verbote von Betteln mit und durch Kinder zur Abstimmung, nachdem bereits Straßenmusiker*innen mit absurden Überregulierungen gegängelt werden. Immer dabei: Kriminalisierung von Armen, Law&Order-Vorstellungen von den öffentlichen Räumen in der Stadt und autoritäre Fantasien davon, die Stadt „rein“ zu halten vom Anblick der Armut. Sittel, der Ordnungsbürgermeister, antwortete auf den Einwand, dass Kinder mit dem Verbot möglicherweise in illegale Tätigkeiten wie Diebstahl oder Prostitution getrieben würden, er sehe diese Gefahr nicht: „vermutlich werden unsere Kontrollen eher eine örtliche Verdrängung in andere Städte zur Folge haben“ (Quelle SZ). Das ist CDU-Politik: Aus den Augen aus dem Sinn. In der neuen Verordnung, die dem Stadtrat am 19. September zur Diskussion vorgelegt werden soll, heißt es: „Wer in Begleitung eines Kindes bettelt oder Kinder betteln lässt“, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Dafür drohen bis zu 1 000 Euro Bußgeld.“ (Quelle SZ)

Meine Hand ist eine Straftat

Längst verboten ist das sogenannte aggressive Betteln gemäß der Polizeiverordnung vom 23. Juni 2016: § 12 verbietet öffentliche Belästigungen und Störungen auf allen öffentlichen Straßen sowie den Grün- und Erholungsanlagen und führt neben a) lagern und nächtigen auch b) aggressiv zu betteln auf, z. B. durch unmittelbares Einwirken von Person zu Person, unter Vortäuschung körperlicher Gebrechen, unter Mitführung eines Hundes, durch in den Weg stellen, wiederholtes Ansprechen oder Anfassen. Die meisten Handlungen, die als „aggressives Betteln“ gelabelt werden, können ganz ohne solche Sonderverordnungen strafrechtlich verfolgt werden: sich jemandem in den Weg stellen oder bedrängen ist beispielsweise Nötigung. Bittend die Hand auszustrecken darf aber nach Strafrecht nicht verfolgt werden. Städtische Bettelverordnungen, in denen solche Verbote festgelegt werden, dienen daher hauptsächlich der Abschreckung und Verächtlichmachung von Bettler*innen. Sie sollen als kriminell und gewalttätig dargestellt werden. Das Betteln soll kontrolliert und erschwert werden und Stadtbild-konform zugerichtet. Kontrolle, Schikane und Verdrängung haben ein Ziel: Bettler*innen sollen möglichst ganz aus dem Stadtbild verschwinden.

Bettelnde Menschen werden als Belästigung empfunden, weil sie Armut sichtbar machen

Obwohl die Gesellschaft in der Lage wäre, Armut und materielle Not abzuschaffen, tut sie es nicht. Im Gegenteil: Selbst wer rund um die Uhr arbeitet, ist vor Armut nicht gefeit. Während die Bundesregierung die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt als Erfolg feiert, sind immer mehr Menschen gezwungen, in Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs ihr Geld zu verdienen. Obwohl die Wirtschaft in Deutschland wächst und die Arbeitslosigkeit sinkt, steigt die Armutsquote, insbesondere bei kinderreichen Familien, Arbeitslosen, Alleinerziehenden, ­Migrant*innen und Rentner*innen. Der breite Niedriglohn­sektor hat den Wirtschaftsstandort Deutschland noch konkurrenzfähiger auf den Weltmärkten gemacht und zu hohen Exportüberschüssen geführt. Und er hat dazu geführt, dass es heute in Deutschland mehr Armut trotz Arbeit gibt. Die deutsche Niedriglohn- und Exportpolitik hat währenddessen die Arbeitsmärkte anderer Länder destabilisiert.
Fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben in Familien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind. Ein monatliches Auskommen und damit die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes definiert die deutsche Sozialgesetzgebung derzeit mit 409 Euro. Doch noch nicht mal dieses „Existenzminimum“ ist den Betroffenen sicher. Mit Sanktionen werden die Bezieher*innen drangsaliert. Durch Kürzungen aufgrund von (vermeintlichen) Regelverstößen wurden im vergangenen Jahr 175 Millionen Euro einbehalten. Zahlt das Amt die Miete nicht, folgt die Kündigung. Menschen in existentieller Not sind daher im Straßenbild häufiger geworden. Menschen die Pfandflaschen sammeln, betteln oder im freien Übernachten. Sie tragen nicht die Schuld für ihre Situation! Es sind die Ressourcen, die nicht gerecht verteilt sind. Es gibt Menschen die davon abhängig sind, sich mit Betteln ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sind von der Gunst einiger abhängig. Es ist eine Umverteilung im Kleinen.

Die Abwertung von Armen 

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, sagen hingegen andere und bezichtigen die Armen, an ihrer Armut selbst schuld zu sein. Die Abscheu gegenüber armen Menschen und das Bedürfnis sie für ihre Armut zu bestrafen, äußert sich zudem immer häufiger durch Gewalt. Besonders betroffen sind Wohnungslose, denn sie haben keinen Rückzugsort und müssen daher häufig draußen schlafen. Die Übergriffe gegen Wohnungslose sind häufig besonders brutal, etwa wenn die TäterInnen Schlafende anzünden. Im vergangenen Jahr starben 17 Wohnungslose durch Gewalt. Seit 1989 kamen 225 Menschen ohne Wohnung durch Gewalt ums Leben (siehe hier und hier).

Die Einführung der HartzIV Gesetze wurde von einer Verächtlichmachung von Hartz-IV-Bezieher*innen und Langzeitarbeitslosen begleitet: Faule Arbeitslose, Parasiten, Schmarotzer, Abzocker. Als Heitmeyer [1]  2008 die Langzeitarbeitslosen erstmals in seine Untersuchung über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufnahm, avancierten diese sofort zur am stärksten abgewerteten Gruppe. Die Vorstellung, Erwerbslose trügen die alleinige Schuld an ihrer Lage und würden es sich zu Lasten der Mehrheit gut gehen lassen, hatte sich bereits fest in den Köpfen verankert. Mit der Wirtschaftskrise fokusierte der um seinen Wohlstand bangende deutsche Steuerzahler auf andere Gruppen: auf vermeintlich faule Südeuropäer*innen, Muslim*innen und auf die Armutszuwanderung aus osteuropäischen Staaten. Gemeint waren damit vor allem Roma und Romnija.

Die Repression gegen bettelnde Menschen ist auch antiromaistisch motiviert

„Haben sie jemals von einer Roma-Juristin gehört? Von einem Roma-Banker? Von einer Roma-Historikerin? Von einem Roma-Reporter? (…) Nein. Warum nicht? Weil man in der Zeitung nur von Roma liest, die betteln und arm sind oder kriminell. Ich kenne eine Juristin. Einen Banker. Eine Historikerin. (…) Sie alle gehören zu meiner Familie. Sie alle sind Roma. Und wir alle müssen uns dafür schämen, Roma zu sein, weil die Medien und folglich die Menschen nur die sozial schwache Schicht (…) betrachtet und anstatt sie zu unterstützen mit dem Finger auf sie zeigt.“ [2]

In der lokalen Berichterstattung rund um das Betteln werden immer wieder Bulgarien, die Slowakei oder Rumänien als Herkunftsländer von Bettelnden genannt. Spätestens wenn der Begriff Clan oder Familie fällt, wissen alle, wer gemeint ist: Roma sind die Bettler par excellance. Sie werden als freiwillig nomadisch und ohne Erwerbsarbeit halluziniert. Es wird ihnen der Unwille und die Unfähigkeit zu geregelter Arbeit unterstellt. Das antiromaistische Ressentiment kennt keine arbeitenden Roma. Die Realität ist aber folgende: Der schon in den Herkunftsländern aufgrund von Diskriminierung erschwerte Zugang zu Bildungseinrichtungen und zu regulärer Erwerbsarbeit ist der Grund warum sie hier sind. Fehlender Zugang zu guter Gesundheitsversorgung, Wohnen und Normalität sowie die andauernde Konfrontation mit Hass und Gewalt gehören für viele Rom*nja zum Alltag dort und hier. Die mediale Berichterstattung über eine „Armutszuwanderung“ [3] von Rom*nja aus Südosteuropa im Zuge der EU-Freizügigkeit verstärkt diese alten Stereotype [4]. Darüber dass diese Zuwanderung für die deutsche Wirtschaft vor allem profitabel war und ist, weil die Mehrheit der zugewanderten Rom*nja einer schlecht bezahlten Arbeit nachgeht, steht nicht in der Zeitung. Immer wieder berichten Rom*nja darüber, dass sie um ihren Lohn geprellt werden und Vermieter*innen aufgrund ihrer Not überdimensionierte Mieten kassieren. Die soziale Absicherung von Rom*nja ist miserabel, sie sind arbeitsrechtlich sehr schlecht geschützt. Könnte es sein, dass sie daher zum Betteln gezwungen sind?

Denn mein Kind geht nicht betteln

Zugewanderte Rom*nja, andere Südosteuropäer*innen und deren Kinder haben ohne Meldeadresse keinen Anspruch auf Schule und Kita. Ohne Arbeitsvertrag können sie keine Wohnung mieten – und haben folglich keine Meldeadresse. Aufgrund der Diskriminierung erhalten Romn*ja keine Arbeit mit Sozialversicherung, mit Arbeitsrechten und Arbeitsschutz. Nun stehen Bettler*innen da und haben ihre Kinder dabei. Aber wo sollen die Kinder denn sonst bleiben? Zu Hause lassen wo sie hier kein zu Hause, keine Wohnung haben? Wir sind gegen die Kriminalisierung von Eltern, aber für den Zugang aller Kinder in Kindertagesstätten und Schulen. Denn alle Eltern haben das Recht auf ihren Alltag, das Recht sich um die eigenen und familiären Belange zu kümmern: Wohnungsbesichtigungen, Ämtergänge, Arbeitsuche und die damit zusammenhängenden Vorstellungsgespräche, Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte. Niemand will betteln. Niemand will dass Kinder betteln müssen – am wenigsten deren Eltern.

Deutsche Tradition gegen Bummler

Das Vorgehen gegen Bettler*innen hat besonders in Ostdeutschland Tradition. In der DDR wurde der Umgang mit „Asozialität“ bzw. „krimineller asozialer Lebensweise“ im Strafgesetzbuch geregelt. Nichtarbeit wurde als „Parasitentum“ und „permanente Entwendung von Volksvermögen“ eingestuft. Die Verfolgung nicht gesellschaftskonformen Verhaltens wurde damit begründet, dass Asozialität eine Quelle der Kriminalität wäre. Darüber hinaus existierten etliche Dienstanweisungen zum Umgang mit „Asozialen“. Gefährdet waren Menschen, welche die „Entwicklungsgesetze der sozialistischen Gesellschaft unvollständig oder gar nicht widerspiegeln, […] indem sie bummeln, kränkeln, aktiv den Prozess der Tätigkeit stören.“ (Wikipedia-Artikel)

Während man die „Bummler“, „welche die Entwicklungsgesetze der sozialistischen Gesellschaft unvollständig oder gar nicht widerspiegeln“ und „aktiv den Prozess der Tätigkeit stören“ zu DDR-Zeiten allerdings noch umerziehen wollte, ist das heute hinfällig. Die armen Menschen sollen verschwinden und die anderen nicht weiter daran erinnern, was uns blüht wenn der Kapitalismus irgendwann auch uns überflüssig macht. Dass darauf in Deutschland mit antiromaistischen Ressentiments reagiert wird, ist vor dem Hintergrund der Vernichtung der Rom*nja während des Nationalsozialismus besonders perfide. In Deutschland, wo wie sonst nirgends von der Krise und der Öffnung der europäischen Binnengrenzen profitiert wird, will man auch noch die paar Euro sparen, die den betroffenen Menschen eine Grundsicherung ermöglichen. Auf Bettelei mit Verboten zu reagieren ist der unfassbare Ausdruck einer kollektiven Verdrängungsleistung. Es soll vergessen gemacht werden, dass Kapitalismus immer Armut produziert.

Die einzig vernünftige Forderung kann daher nur sein: Kapitalismus abschaffen!
und bis dahin:

Gegen die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Bettler*innen. Wir fordern das Betteln zu tolerieren!
Nachdenken! Die hysterische, antiromaistische und beleidigende Berichterstattung der Dresdner lokalen Zeitungen geht gar nicht! Recherche und Aufklärung statt Law-and-Order Agenda!
Recht auf Bildung für alle! Daher den Zugang zu Schule und Kindergarten nicht länger von der Meldeadresse abhängig machen!
Umverteilen! Betteln und Spenden ist eine kleine Form der Umverteilung. Doch es geht viel größer:
Die Stadt gehört uns allen. Never mind the papers!

Deswegen haben wir als gruppe polar gemeinsam mit der Gruppe gegen Antiromaismus, dem Verein Romano Sumnal und weiteren Gruppen die Bettellobby Dresden gegründet (zum Vorbild Bettellobby Wien). Der geplanten Verschärfung der Bettelordnung in den kommenden Wochen setzen wir eine Veranstaltungsreihe zur inhaltlichen Auseinandersetzung, unseren politischen Protest und unsere Solidarität entgegen!

1 Die Forschungsgruppe des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld unter Leitung des Pädagogikprofessors Wilhelm Heitmeyer untersuchte in der „Deutsche Zustände“ genannten und kontinuierlich über 10 Jahre hinweg durchgeführten Studie den Zusammenhang zwischen sozialen und ökonomischen Verhältnissen und der Entwicklung von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten in Deutschland. 

2 Florian Koller: Sind Bettler Roma, sind Roma Bettler? Kritik einer einseitigen Wahrnehmung, in: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung. Urbane Lebenswelten von Roma, No 64, Juli-September 2016.

3 „Armutszuwanderer“ wird derzeit als (abfällige) Bezeichnung für Menschen aus Südosteuropa verwendet, teils auch als Synonym für Roma, die im Zuge der EU-Freizügigkeit nach Deutschland kommen. Die große Mehrheit der Menschen, die seit 2007 aus den neuen EU-Beitrittsländern eingewandert sind, geht jedoch einer Arbeit nach oder studiert. Es handelt sich daher überwiegend um eine – für Deutschland profitable- Arbeitszuwanderung bzw. Arbeitseinwanderung. Auch problematisch: Bei „Armutsmigration“ schwingt die Sorge mit, Deutschland sei vor allem von einer Einwanderung in die Sozialsysteme betroffen. Zitiert nach dem Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher
4 Stefan Benedilkt, Barbara Tiefenbach und Heidrun Zettelbauer: Die imaginierte „Bettlerflut“ – Temporäre Migration von Roma/Romnija – Konstrukte und Positionen, 2013