GESTERN MORGEN

Eröffnungsrede zur Auftaktveranstaltung der Diskussionsreihe
„In die Kommunismus?“ für Wege aus der Sprachlosigkeit.

Herzlich willkommen zu unserer ersten Veranstaltung in der Reihe „In die Kommunismus? Eine Diskussionsreihe für Wege aus der Sprachlosigkeit.“ Wir wollen uns heute und zukünftig mit der Frage auseinandersetzen, was nach dem Kapitalismus kommen kann und wie wir dahin kommen. Dass der Kapitalismus mit seiner permanenten Produktion von Elend und Unglück auf diesem Planeten keine Zukunft haben kann oder aber die Welt als solches ohne Zukunft sein wird, liegt auf der Hand. Allerdings besteht derzeit keine relevante kollektiv verhandelte linke Vorstellung zur Überwindung des Kapitalismus. Aber es gibt sehr wohl verschiedene Ansätze, Überlegungen, Modelle, die wir im Rahmen der Reihe anschauen und diskutieren wollen.

Wenn wir uns nach dem ‚Wie‘ der Überwindung des Kapitalismus fragen, steht aber zunächst die Erkenntnis, dass die kommunistischen Versuche, die Gesellschaft grundlegend umzugestalten – sofern sie nicht niedergeschlagen wurden – immer in unterdrückerische Systeme umgeschlagen sind. Es geht uns also darum, Stalinismus und Realsozialismus zu verstehen. Wer vom Kommunismus reden will, darf von Realsozialismus und Stalinismus nicht schweigen.
Nicht zu schweigen, haben sich auch andere vorgenommen, womit ich zum Anlass für den Start unserer Reihe zum heutigen Termin komme. Dieser Anlass war die interdisziplinäre Konferenz „Das System des Kommunismus“ – Idee und Wirklichkeit, die in den vergangenen drei Tagen vom 7.-9.11. im Hygienemuseum Dresden stattgefunden hat. Im Mittelpunkt der Konferenz, eingerührt vom Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich der TU Dresden, in Person Dr. Patzelts, stand die Frage, wieso die Idee des Kommunismus nach wie vor eine intellektuelle und emotionale Anziehungskraft hat. Wie man sich über die Anziehungskraft wundern kann, wundert uns. Um dieser Anziehungskraft auf die Spur zu kommen, wurden illustre Experten der Biophilosophie, der Ethnologie und der Forschungsstelle Vergleichende Ordensgeschichte bemüht. Uns hat sich der Verdacht aufgedrängt, dass sich hier viel eher Antikommunisten versammelt haben, deren Auseinandersetzung mit den kommunistischen Versuchen – übrigens in der Ankündigung zynisch als „Realitätstest“ bezeichnet – ausschließlich der Legitimierung der kapitalistischen Demokratie als einzig mögliches Gesellschaftssystems dient. Wie wenig den Einladenden an politischen Veränderungen hin zu einer emanzipatorischen Gesellschaft gelegen ist, haben sie bereits mit ihrer Konferenz zum System Kapitalismus gezeigt. Dass auf beiden Tagungen ausschließlich männliche Referenten geladen waren, zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, welche Betonkopffraktion hier zusammen gekommen ist.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sucht bei uns eine andere Richtung: Wir sind traurig wegen der ermordeten Menschen und der gescheiterten Emanzipationsversuche. Und unsere Fragen kreisen um die Schwierigkeiten herkömmliche Positionen von Macht zu verlassen, und um die Angst vor dem wiederholten Scheitern oder wiederholten Verbrechen.
„Die kommunistische Kritik des Kommunismus dient nicht dem Antikommunismus“ – das sagt Bini Adamczak, und sie hat außerdem das Buch „Gestern Morgen – über die Einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft“ verfasst.
Bini Adamczak führt uns in GESTERN MORGEN durch die Geschichte des Kommunismus: von 1939 rückwärts bis 1917. Vom Hitler-Stalin Pakt bis zur Oktoberrevolution kreisen ihre Überlegungen um die Figuren von Partei und Klasse, von Verrat und Versprechen, von Revolution und Konterrevolution. Sie beginnt bei den Auslieferungen der ins russische Exil geflohenen deutschen und österreichischen Kommunist_innen an die Gestapo (um Schutz zu finden und um sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen). Und endet mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im Jahr 1917. Die Autorin sucht das Trümmerfeld der Geschichte nach den revolutionären Wünschen ab, die dort begraben liegen. Was sie findet, sind vergessene Träume, vergangene Hoffnungen und deren Enttäuschung.
Mit einer Lesung aus Gestern Morgen beginnen wir unsere Reihe, denn ohne den Gang durch die Geschichte der revolutionären Versuche, deren Scheitern und der im Namen des Kommunismus verübten Verbrechen brauchen wir uns gar nicht erst auf den Weg zu begeben.

Bini A. ist politische Autorin z.B. des neben dem heute im Mittelpunkt stehenden Gestern Morgen auch des Buches „Kommunismus für Kinder“, Performerin, bildende Künstlerin, arbeitet derzeit mit der Jour fixe Initiative an einer Veranstaltungs-Reihe zu Utopie und Wachstumskritik, mit dem Herausgeber_innenkollektiv ‚kitchen politics‘ an einer Buchreihe zu Queerfeminismus und Ökonomiekritik sowie mit Betti Hohorst an einem Animationsfilm über die Wirtschaftskrise. Sie hat Beiträge für die beiden Sammelbände „Was tun mit Kommunismus?“ und „Nie wieder Kommunismus?“ verfasst. Bini versucht ihrem Motto „Kommunismus heißt wenig arbeiten“ treu zu bleiben.
Im letzten Kapitel des Buches Gestern Morgen, dem Kapitel 7, welches mit PS überschrieben ist erfahren wir wo sie lesen gelernt hat:

Lesen lernen. In dem Ort, in dem ich die meisten Jahre meines Lebens verbrachte, gab es auf einem der gekachelten Gartenmäuerchen, die meinen Schulweg säumten, ein aus weißen Strichen gezogenes Graffiti mit dem simplen Schriftzug „WIR SIND DA“. Das A war umkringelt, mehr wies nicht darauf hin, um wen es sich bei diesem „wir“ handeln könnte. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Der schmale Schriftzug reichte, um mir ein Gefühl von Sicherheit, zuweilen auch von Stärke zu geben. Gegen die Angst war dieses A gerichtet, vor allem aber gegen die Einsamkeit in einer deutschen Kleinstadt der neunziger Jahre.