Zur Ausgabe «Siegerjustiz» der Rote Hilfe Zeitung

Wir dokumentieren hier das Statement von the future is unwritten (Leipzig) und Critique’n’act (Dresden) zur „Siegerjustiz“-Ausgabe der Rote Hilfe Zeitung. Die „Siegerjustiz“-Ausgabe war auch Anlass zur derzeit statt findenden Veranstaltungsreihe „Was heißt hier Siegerjustiz„, die zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den real-sozialistischen Zuständen einlädt.

Liebe Genoss*innen vom Bundesvorstand der Roten Hilfe,
liebe Genoss*innen von der Redaktion der Rote Hilfe Zeitung,

Im letzten Quartal 2016 kam die Rote Hilfe Zeitung mit dem Schwerpunktthema: «Sieger-
justiz – Verfolgung und Delegitimierung eines sozialistischen Versuchs seit 1990» heraus.
Viele Gruppen und Zusammenhänge haben dazu Stellung bezogen und Kritik geäußert.
Auch uns ist es wichtig, uns in dieser Debatte zu äußern.

Die Rote Hilfe hat uns immer begleitet, uns unterstützt, wir beziehen uns positiv auf
sie als strömungsübergreifende Organisation. Viele Genoss*innen von uns sind Mitglie-
der der RH, waren aktiv in der Roten Hilfe, teilweise auch im Bundesvorstand. Gera-
de in der Frage der Antirepression ist es wichtig, dass es eine strömungsübergreifen-
de Organisation gibt, die solidarisch an der Seite von Genoss*innen steht, die Ziel des
staatlichen Repressionsapparats werden. Gerade daher halten wir die letzte Ausgabe für
fatal, weil die Zeitungsredaktion damit massiv gegen die Statute der Roten Hilfe als strö-
mungsübergreifende Organisation verstößt und einen letztlich stalinistischen Konsens der
DDR-Betrachtung in der Roten Hilfe durchzusetzen versucht. Dagegen wenden wir uns
entschieden aus unserer politischen Position heraus. Aber auch aus unserer Vorstellung
dessen, was die Rote Hilfe ausmacht, wollen wir eine solidarische, konstruktive Kritik
leisten und so zu einer gemeinsamen Debatte einladen.

Wir kämpfen gegen die kapitalistische Totalität und ihre staatliche Zwangsverwaltung.
Staat und Kapital sind für uns beide Teil des Problems: der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung, die zwar von Menschen gemacht wird, aber sich ihrer Kontrolle entzieht. Unsere
Kämpfe kommen nicht aus dem Nichts, sie bauen auf Kämpfen von Generationen von
kommunistischen und libertären Genoss*innen auf, die sich dem Ziel der Errichtung eines
Vereins freier Menschen (Marx) verschrieben haben. Deshalb werden wir immer an der
Seite anderer Genoss*innen stehen, wenn diese sich gegen das kapitalistische Elend und
die staatliche Herrschaft zur Wehr setzen. Auch und gerade dann, wenn der Staat, des-
sen Repression sie sich ausgesetzt sehen, dem eigenen Selbstverständnis nach ein «linker
Staat»ist.

Deshalb sind wir solidarisch mit der Kritik der Rote Hilfe Ortsgruppe Dresden, die den
repressiven Charakter des DDR-Staats – teils aus eigener Erfahrung – von links kritisiert.
Wir wollen nicht, dass unter den Tisch fällt, dass in den Stasi-Knästen auch linksradikale
Genoss*innen saßen und dass es eine aktive sozialistische Opposition gegen das SED-
Regime gab. Der Charakter der Proteste im Jahr 1989 wandelte sich allerdings und aus
Demonstrationen für einen demokratischen, besseren Sozialismus wurden Aufmärsche
für eine vereinte deutsche Nation. Ebenso wie diese «Wende in der Wende»bedeutete die
Übernahme des DDR-Staatsgebiets durch die BRD die Rücknahme zahlreicher histori-
scher Errungenschaften. Frauenrechte wurden zurückgebaut, Massenarbeitslosigkeit und
ökonomische Perspektivlosigkeit machten sich in den «neuen Bundesländern»breit. Nicht
nur, aber auch eine Folge von nationaler Vereinigung und Durchsetzung marktwirtschaft-
licher Prinzipien. Hinter diesem Rückfall steckt allerdings nicht nur eine Durchsetzung
nationalistischer, konservativer und neoliberaler politischer Kräfte, sondern auch eine
1historische Niederlage der Linken. Auch deshalb ist eine selbstkritische Sicht auf die Ge-
schichte des Staatssozialismus für uns von zentraler Bedeutung. Unsere Kritik der DDR
und der Sowjetunion unterscheidet sich grundlegend von der Kritik, die die bürgerliche
Öffentlichkeit äußert. Unser Anliegen ist eine Kritik von links.

Zur Kritik des DDR-Staats
Es ist der ideologischen Erziehung im DDR-Staat zu verdanken, dass jede Romantisierung
der DDR-Bevölkerung und ihrer Funktionär*innen fehl am Platz ist. Sie setzten sich eben
nicht bloß nach bestem Wissen und Gewissen ein, um eine sozialistische, friedliche und
gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen (Rote Hilfe Zeitung 4/2016). Vielmehr handelte
es sich um eine Gesellschaft, in der von kleinauf möglichst lückenlos das Denken und
Handeln der Einzelnen vom Staat vorgegeben und jede Form von Abweichung bestraft
wurde. Dies wurde nicht zuletzt durch eine nahezu lückenlose Bespitzelung sämtlicher
Lebensbereiche durch zuletzt etwa 189000 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS erreicht.
Das Scheitern der DDR-Ökonomie ist sowohl auf ihre historischen Bedingungen als
auch auf die immanenten Mängel der von den Marxist*innen-Leninist*innen durchge-
setzten staatssozialistischen ökonomischen Struktur zurückzuführen. Theoretischen De-
fizite waren der Etatismus, eine defizitäre Kapitalismuskritik, eine mechanistische Vor-
stellungen von Gesellschaft und Geschichte und ein Begriff von Kommunismus als pri-
mär effizientere Produktionsweise. Die historischen Bedingungen waren geprägt von den
Zerstörungen durch den zweiten Weltkrieg, der Teilung eines vorher ökonomisch zusam-
menhängendem Wirtschaftsgebietes, der Konkurrenz mit den kapitalistischen Staaten
auf dem Weltmarkt und der hiermit einhergehenden Orientierung an ihren menschen-
feindlichen Kriterien. Vor diesem Hintergrund konnte aus der Idee des Aufbaus des So-
zialismus die nachhaltige Diskreditierung der Idee des Sozialismus werden. Sowohl die
stalinistische zentralstaatlich-planwirtschaftliche Ökonomie als auch die marktsozialisti-
schen Reformversuche seit den 60er Jahren konnten den Anspruch einer bedürfnisorien-
tierten, demokratischen und dennoch relativ effizienten Organisation der Reproduktion,
Produktion und Verteilung nicht erfüllen. Ökonomische Grundprobleme waren der Inter-
essengegensatz zwischen Betriebsleitungen und Planbehörde bei der Planerfüllung und
die Schwierigkeiten der Integration kapitalistischer Elemente wie Wert, Markt und Preis
in die staatlich organisierte Planwirtschaft. Hierbei ist zu kritisieren, dass die sozialisti-
sche Ökonomie primär als effiziente Produktionsweise, ohne Loslösung von grundlegenden
Kategorien des Kapitalismus wie Wert und Markt, staatlich gelenkt durch «ökonomisch
Sachverständige», gedacht und praktiziert wurde.

Die Idee, der Staatssozialismus eigne sich als Übergangsgesellschaft zum Kommunis-
mus, beinhaltet einige grundlegende Fehleinschätzungen von Funktion und Charakter des
Modernen Staates. In einigen linken Lesarten steht der Staat dem Kapitalismus äußer-
lich und neutral gegenüber. Er ist in dieser Sichtweise reine Form, die mit beliebigem
Inhalt gefüllt werden könnte. So ist der Staat in einer auf Lenin zurückgehenden Lesart
Staat der Monopole, dessen Funktion im Kapitalismus es ist, den Monopolen möglichst
viele Extraprofite zu sichern. In anderen Lesarten ist er bloßer ideologischer Überbau,
der den Schein von politischer Lenkung vermittelt, während das Kapitalverhältnis sich
2selbst reproduziert. Aus beiden Annahmen würde folgen, dass sich mit einer Ablösung
der Klassenherrschaft der Bourgeoisie durch das Proletariat automatisch auch der Cha-
rakter des Staates verändern würde. Dagegen spricht jedoch eine ganze Menge, wenn wir
die Funktionsweise des modernen Staates näher betrachten.

Das Fortlaufen der Kapitalakkumulation sichert sich keineswegs von selbst. Es ist äu-
ßerlich auf die gewaltsame Durchsetzung seiner juristischen Bedingungen (Eigentum,
Freiheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz) angewiesen. Und vor allem benötigt die
Kapitalakkumulation den Staat als aktiven Gesellschaftsplaner, der die Reproduktion der
Arbeitskraft sicherstellt. Dies geschieht über aktive Sozial- und Familienpolitik, aber auch
durch Regelung der Arbeitszeiten, Arbeitsschutz, Gesundheitspolitik, staatlichen Eingriff
in die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen und vieles mehr. Ohne aktive staat-
liche Intervention, könnte die Akkumulation von Kapital nicht stabil fortbestehen. Der
Staat ist nicht der Staat von Einzelkapitalen, des Finanzkapitals oder sonstigen Sonderin-
teressen, er ist ein «ideeller Gesamtkapitalist»(Engels). Gleichzeitig sind alle staatlichen
Maßnahmen und Institutionen auf ihre Finanzierbarkeit angewiesen. Kein Staat ohne
Staatshaushalt und kein Staatshaushalt ohne funktionierende Akkumulation von Kapi-
tal, die besteuert werden könnte. Dieser Akkumulationslogik war auch der DDR-Staat
unterworfen, wenngleich er seinen Staatshaushalt nicht aus der Kapitalakkumulation pri-
vater, sondern der staatlicher Unternehmen finanzierte.

Zwei wesentliche universelle Vermittlungsprinzipien der kapitalistischen Moderne sind
der Wert und der Staat. Der Wert vermittelt abstrakt alle von einander unabhängi-
gen Warenproduzent*innen über ein allgemeines Prinzip. Der Staat vermittelt über die
Durchsetzung des abstrakten und für alle gültigen Rechts und die Allgegenwart seines
Gewaltmonopols die ihm unterworfenen Staatsbürger*innen miteinander. Die Logik des
Werts entspringt aus der Gleichsetzung verschiedener Gebrauchswerte über die ihnen zu
Grunde liegende abstrakte Arbeit. Ihren universellen Zwangscharakter erhält sie grund-
sätzlich über das Konkurrenzprinzip des Marktes, das die Marktteilnehmer*innen zu
möglichst effizienter Ausbeutung der Arbeitskraft zwingt. Wenn der Markt staatlich aus-
geschaltet werden soll, ohne dabei den Wert als Vermittlungsprinzip abzuschaffen, muss
der Staat an die Stelle des Marktes treten. Das, was zuvor ein abstraktes, schwer greifba-
res Prinzip besorgt hat, muss nun der Staat mit ideologischer Erziehung und unmittelba-
rem Zwang besorgen: Arbeitsethos, Disziplin, Unterordnung. Tut er das nicht, gefährdet
er die Akkumulation von Mehrwert und damit auch seine eigene Existenzgrundlage. Ge-
nau jenen unmittelbaren Zwang hat der DDR-Staat auch ausgeübt, wie die Genoss*innen
von der Roten Hilfe Dresden in ihrem Statement eindrücklich beschreiben.
Wenn Staat und Wert als gesellschaftliche Vermittlungsprinzipien etwa durch ein Rä-
tesystem ersetzt werden sollen, werden gesellschaftliche Prozesse vor allem dadurch be-
stimmt sein, dass möglichst viele der an dem Projekt beteiligten Menschen gemeinsam
durch ständiges Diskutieren, Experimentieren und Reflektieren versuchen, möglichst ver-
nünftige ökonomische und politische Strukturen zu entwickeln und somit eine größtmögli-
che Freiheit und Bedürfnisbefriedigung aller zu erreichen. Wenn wir in unseren Kämpfen
für eine Welt jenseits des Kapitals ernstgenommen werden wollen, müssen wir etwas
besseres zu bieten haben, als konstruierte Rechtfertigungen eines autoritären Staatsso-
zialismus!

Wir wissen um die Heterogenität der deutschen Linken und den teils unüberbrück-
baren Differenzen, was spektrenübergreifende Antirepressionsarbeit sicher nicht einfach
macht. Das Gejammer hoher, ehemaliger Repräsentanten von NVA, Grenzern, Stasi
und Zentralkomitee der SED ist jedoch eine Verhöhnung der Opfer von (Stasi-)Knast,
Jugendwerkhof, Militär, Schießbefehl oder schlicht von monotonem, fremdbestimmtem
(Produktions-)Alltag. Dass die politische Verfolgung zu DDR-Zeiten, gerade der linken
Opposition, keine Erwähnung findet, deutet daraufhin, dass es am Ende, entgegen eige-
ner Stellungnahme der RHZ, doch darum ging die DDR zu romantisieren, die in ihrem
Namen begangenen Verbrechen zu bagatellisieren und die Täter*innen zu «Opfern»zu sti-
lisieren. So wird nur ein Spektrum vermeintlich Linker abgebildet: geschichtsvergessene,
inhumane und autoritäre Vulgärmarxist*innen. Eine Schwerpunktausgabe zum Thema
Repression in der DDR ïn der Rote Hilfe Zeitung, wie von Anfang an von der Roten Hilfe
Ortsgruppe Dresden gefordert, ist daher das absolute Minimum, das wir von der Roten
Hilfe und ihrer Zeitungsredaktion fordern! Es kann jedoch nur der Anfang einer weiter-
gehenden Beschäftigung linker Gruppen und Organisationen (wie der Roten Hilfe) mit
dem negativen Charakter des Staatssozialismus und seiner Auswirkungen bis heute sein.
Die Ignoranz sich den Erfahrungen linker Oppositioneller in der DDR und Osteuropa zu
verweigern, verbaut auf Dauer die Möglichkeit kommunistische Utopien in diesen Gesell-
schaften überhaupt zu diskutieren. Das Festhalten an der bipolaren Logik des Ost-West
Konflikts, wo aus Angst vor Antikommunismus nur Solidarität mit den sozialistischen
Staaten geübt wurde, führt in die Irre – der Kalte Krieg ist vorbei! Es wäre jedoch auch
zu einfach zu behaupten dass der Staatssozialismus im Allgemeinen und die DDR im
Besonderen nie etwas mit linken Ideen und Bestrebungen zu tun gehabt hätten. Gerade
die Anerkennung und die Reflexion des Staatssozialismus und der DDR als Teil linker
Geschichte bringt erst die Voraussetzung für notwendige, kritische Aufarbeitung hervor,
der sich Linke und Kommunist*innen heute stellen müssen. Das Bestreben, die Verfeh-
lungen der Vergangenheit unter keinen Umständen wiederholen zu wollen, ist Bedingung
für Kommunist*innen, nach dem Fall der Sowjetunion jemals wieder gesellschaftliche Re-
levanz zu erlangen. Hierbei muss allen historischen Fakten Rechnung getragen werden.
Critique’n’act veranstaltet aus den genannten Gründen im Oktober, gemeinsam mit
dem Ermittlungsausschuss Dresden (ehem. Roten-Hilfe Ortsgruppe Dresden), eine Veran-
staltungsreihe unter dem Motto «Was heißt hier Siegerjustiz»(https://ea-dresden.site36.net/),
deren Ergebnisse wir gerne mit Euch zum Abdruck in der Rote-Hilfe Zeitung teilen.

Mit solidarischen Grüßen,

the future is unwritten (Leipzig)
critique’n’act (Dresden)
http://www.unwritten-future.org/
http://critiquenact.blogsport.eu/