Die braune Saat – Antisemitismus und Neonazismus in der DDR

Der Mitschnitt der Veranstaltung:

 

Mittwoch, 18. Oktober 2017 um 20 Uhr in der Kosmotique
Lesung & Diskussion des gleichnamigen Buches von und mit Harry Waibel
Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Was heisst hier Siegerjustiz?“

Die aktuelle, rassistische Gewalt, sowie die der Nachwendejahre im Osten der Bundesrepublik ist nicht vom Himmel gefallen. Gestützt auf Unterlagen des Ministeriums für Staatsicherheit der DDR weist Harry Waibel nach, dass antisemitische Vorfälle, nationalsozialistische Verherrlichung und pogromartige Angriffe bereits vor 1989 zunahmen, die SED Führung vor diesen Phänomen jedoch die Augen verschloss.

Zum Buch:
Seit der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern ─ relativ zur Zahl der Bevölkerung ─ 2- bis -mal mehr rechte Propaganda- und Gewalttaten als im Westen. Ein Phänomen, das nicht zuletzt auf eklatante Defizite des DDR-Systems zurückgeht. Die SED hatte einen Antifaschismus etabliert, der gegenüber dem sich immer bedrohlicher ausweitenden antisemitischen und neonazistischen Phänomen die Augen verschloss und den latenten und manifesten Antisemitismus durch die Ideologie des Antizionismus vertuschte. Hinzu kommt, dass Entnazifizierung in der SBZ/DDR ─ ähnlich wie in Westdeutschland ─ oberflächlich war und zu schnell abgebrochen wurde.
Harry Waibel belegt diese und weitere Defizite anhand von etwa 7.000 mündlichen oder schriftlichen Angriffen von Neonazis bzw. Antisemiten in der DDR und propagandistischen Verherrlichungen des nationalsozialistischen Groß-Deutschlands. Hinzu kommen etliche Schmierereien von Hakenkreuzen und SS-Runen auf Straßen, Plätzen und an Gebäuden sowie über 900 antisemitische Vorfälle. Seit den 1960er Jahren fanden etwa 200 Pogrome bzw. pogromartige Angriffe in über 110 Städten und Gemeinden der DDR statt.
Die vorwiegend männlichen Akteure sind, entweder als individuelle Täter oder in Gruppen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, so in den meisten Schulformen und unter den jungen Arbeitern zu finden. Zu den Neonazis gesellten sich ab Ende der 1970er Jahre Skinheads. Zu ihnen stießen gewaltbereite Fußball-Anhänger, die so genannte Hooligans.
Zusammen mit den Skinheads entwickelten sie eine öffentliche, schlagkräftige Militanz, die in den politisch motivierten Straßenschlachten gegen die Sicherheitskräfte sichtbar wurde. Der Neonazismus in der DDR bestand aus mehreren Elementen und war ab Mitte der 1980er Jahre für die SED nicht mehr zu beherrschen.
Die Informationen zum Buch stammen großteils aus bisher nicht gesichteten Materialien aus den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatsicherheit, der ehemaligen DDR (BStU), die in der Regel als «geheim» deklariert waren.

Zum Autor:
Harry Waibel, geboren 1946 in Lörrach, lebt in Berlin. Er promovierte 1996 am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin bei Wolfgang Benz und Reinhard Rürup, Coach für wissenschaftliche Abschlussarbeiten und Lehrbauftragter an der Freien Universität Berlin. Bisher erschienen: «Rechtsextremisten in der DDR bis 1989» (1996), «Diener vieler Herren – Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR» (2011), «Rassisten in Deutschland» (2012), «Der gescheiterte Antifaschismus der SED – Rassismus in der DDR» (2014). Ferner: Aufsätze u.a. in «Zeitschrift antirassistischer Gruppen (ZAG)», «Hintergrund. Zeitschrift für kritische Gesellschaftstheorie und Politik», «Jungle World», «Exit-Deutschland», «Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat».

Zur Reihe „Was heißt hier Siegerjustiz?“
Veranstaltungsreihe zur Kritik real-sozialistischer Zustände
organisiert von gruppe polar, Internationalistisches Zentrum Dresden, ermittlungsausschuss

Link zum Programm

Im Dezember 2016 erschien unter dem Titel „Siegerjustiz – Verfolgung und Delegitimierung eines sozialistischen Versuchs seit 1990“ die Ausgabe 4/2016 der Rote Hilfe Zeitung (RHZ). Zu Wort kamen ehemalige Funktionäre der DDR, die sich darüber beklagten, wie harsch mit ihnen umgegangen wurde. Es waren genau diese Funktionäre, die durch ihr Tun im Namen von Sozialismus und Kommunismus ein repressives System aufbauten, vertraten, mittrugen und Menschen indoktrinierten und ihnen die Selbstbestimmung absprachen.

Die Rote Hilfe Ortsgruppe Dresden (RH DD) wollte das so nicht hinnehmen und forderte eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. Um eine Diskussion anzuregen verfasste sie ein Statement an die Gesamtorganisation der Roten Hilfe und die lokalen linksradikalen Strukturen. Es gab einzelne Gruppen, vornehmlich ostdeutsche, die wie die RH DD eine Verklärung des repressiven DDR-Systems ebenfalls ablehnen. [1] Ob es eine Ausgabe zur Repression gegen linke Oppositionelle in der DDR geben wird, wie sie die RH DD einfordert, ist aus der Erklärung des Redaktionskollektivs der RHZ und des Bundesvorstandes der Roten Hilfe indes nicht ersichtlich. [2]

Für uns scheint es immer noch einen tiefen Graben zwischen Linken in Ost- und Westdeutschland zu geben. Teile der „West-Linken“ sprechen Genoss*Innen, die in der DDR sozialisiert und teilweise durch DDR-Organe verfolgt wurden, ab, ihre eigene Geschichte besser beurteilen und einschätzen zu können. Kritik bzw. Ablehnung eines erlebten repressiven Regimes, dass sich anmaßte, den Sozialismus zu verkörpern wird schlicht als Antikommunismus abgetan. Möglicherweise geschieht dies aus Angst der bürgerlichen Geschichtsinterpretation in die Hände zu spielen. Vehement wird beschönigt, was dringend von links aufgearbeitet und kritisiert werden muss,sollen sich Fehler nicht wiederholen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass es niemandem etwas bringt, eine Gesellschaftsordnung zu beschönigen, die alles, was nicht in das vorgeschriebene Schema passte, verfolgte.

Antiautoritär zu sein bedeutet für uns auch immer eine aufrichtige Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Die Kritik des Kommunismus darf nicht den Antikommunist*innen überlassen werden. Aus diesem Grund haben sich linksradikale Gruppen in Dresden zusammengetan und eine kleine Reihe mit dem Namen „Was heißt hier Siegerjustiz? – Kritik real-sozialistischer Zustände“ organisiert. In mehreren Veranstaltungen wollen wir uns dem Lebensalltag der DDR annähern. Zum einen geht es dabei um Erfahrungswelten der Oppostion und Subkultur. Zum anderen möchten wir über die Propaganda der DDR-Organe genauso wie über das Problem des Nazismus und Rassismus in der DDR sprechen. Lassen wir nicht zu, dass immer die vermeintlichen Sieger der Geschichte ihre Propaganda als Wahrheit auftischen – egal ob Linke oder Antikommunist*innen.

[1] Ein Liste mit den kritischen Statements
Rote Hilfe Dresden 1, 2 & 3
Internationalistisches Zentrum, e*vibes, FAU-Dresden – AG Feminismus
Anarchist Black Cross Dresden
Anarchist Black Cross Dresden und Jena
Ostgruppen der Interventionistischen Linken
Rote Hilfe Leipzig
Rote Hilfe Bielefeld
[2] Erklärung des Bundesvorstandes und des Redaktionskollektivs